Idomeneo – Herbstfestspiele Baden-Baden – 23.10.2021

Besprechung von Markus Guggenberger

Idomeneo

Opera seria in drei Akten

Musik von Wolfgang Amadeus Mozart
Libretto von Giambattista Varesco

Musikalische Leitung: Thomas Hengelbrock
Orchester: Balthasar-Neumann-Ensemble
Musikalische Einstudierung: Guy van Waas
Chor: Balthasar-Neumann-Chor
Einstudierung des Chores: Detlef Bratschke

Mit zwei konzertanten Aufführungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Opera seria „Idomeneo“ werden am 21. und 23. Oktober die diesjährigen „Baden-Badener Herbstfestspiele 2021“ eröffnet. Obwohl es sich bei „Idomeneo“ um eine Oper handelt, deren Titel nahezu jedem Opernkenner geläufig sein dürfte, so findet sie sich doch recht selten auf den Spielplänen der bedeutenden Opernhäuser. Neben den populären Mozart-Klassikern, wie z.B. „Die Zauberflöte“, „Così fan tutte“ und „Le nozze di Figaro“, wird „Idomeneo“ häufig stiefmütterlich behandelt, weshalb es umso erfreulicher ist, dass diese für Mozarts Verhältnisse recht „sturm und drängerische“ Opera seria im Rahmen der „Baden-Badener Herbstfestspiele“ – wenn auch nur in konzertanter Form – zur Aufführung gebracht wird. Da es sich bei diesem eher selten aufgeführten Werk um eine gesangstechnisch besonders anspruchsvolle und virtuose Mozart-Oper handelt, warten die Baden-Badener Festspiele besonders in den Hauptpartien mit einer namhaften und hochkarätigen Sänger*innenbesetzung internationalen Ranges auf. Thomas Hengelbrock, der den Baden-Badener Festspielen seit Jahren künstlerisch eng verbunden ist, gastiert mit seinem 1991 gegründeten Balthasar-Neumann-Ensemble und dem dazugehörigen Balthasar-Neumann-Chor. Bei dem Ensemble handelt es sich um ein professionelles Orchester, das sich vor allem der historischen Aufführungspraxis verschrieben hat und bemüht ist, ausgewählte Werke des Barocks und der frühen Wiener Klassik sowohl mit authentischem Instrumentarium als auch mit historischer Spieltechnik darzubieten. Da es sich bei dieser Vorstellung um eine konzertante Aufführung handelt, kann die Aufmerksamkeit des Publikums gezielt auf den Inhalt der Oper gelenkt werden – im Mittelpunkt stehen dabei die Sänger*innen bzw. Protagonist*innen und nicht, wie so oft, eine mehr oder minder gelungene Inszenierung. Als Zuhörer*in sollte man sich mit dem Inhalt und der Historie der Oper „Idomeneo“ auseinandersetzen, um die szenischen und zwischenmenschlichen Beziehungen auf dem Konzertpodium besser nachvollziehen zu können.

Zu Beginn des Jahres 1779 war der damals 25-jährige Wolfgang Amadeus Mozart von einer seiner zahlreichen ausgedehnten Konzertreisen, die ihn in die Musikzentren München, Mannheim und Paris geführt hatte, mit neuen Eindrücken in seine Heimatstadt Salzburg zurückgekehrt. Drückender als je zuvor empfand er die Enge des fürsterzbischöflichen Hofes, weshalb ihm im Herbst 1780 ein Münchner Opernauftrag gerade recht kam: Kurfürst Karl Theodor hatte Mozart für die kommende Karneval-Novität als Komponist für eine neue Opera seria ausersehen. Gleichzeitig wurde der seit 1766 in Salzburg lebende Abbate Giambattista Varesco, der Hofkaplan des Fürsterzbischofs Colloredo, mit dem Verfassen des Librettos beauftragt. Dieser griff unvermittelt nach dem französischen fünftaktigen „Idoménée“-Libretto von Antoine Danchet, das er ins Italienische abzuwandeln suchte. Nun muss man aber konstatieren, dass Giambattista Varesco bei Weitem nicht die übersetzerischen und dichterischen Fähigkeiten eines Pietro Metastasio aufwies. Varesco hatte sich von dem großen und bedeutenden Librettisten lediglich die Kniffe, Tricks und Formeln abgeschaut, ohne jedoch selbst seine Fantasie oder sein Sprachvermögen auszuschöpfen. Ganz im Gegenteil, denn er gab sich, noch einer früheren Stilepoche verhaftet, mit endlosen Versen recht weitschweifig, wodurch auch die handelnden Figuren eine nahezu barocke Steifheit offenbaren. Mozarts Vater Leopold musste häufig als erfahrender Berater und Vermittler zwischen dem reizbaren Varesco und dem temperamentvollen Mozart fungieren, dem vieles an Situationen, Text und dramaturgischen Bedingungen als verbesserungsbedürftig erschien. Zweifellos fügte Mozart, oft gegen den Willen des eitlen Abbate, manches aus eigener Machtvollkommenheit hinzu. Anfang November desselben Jahres begann Mozart mit der Komposition von „Idomeneo“, nachdem ihm eine erste Version von Varescos Libretto vorgelegt wurde.

Literatur- und musikwissenschaftlich ist als interessant anzumerken, dass die legendäre „Idomeneo“-Historie die Fantasie vieler Jahrhunderte beschäftigte. Sie gehörte insbesondere im 18. Jahrhundert zu jenen bevorzugten Stoffen aus dem klassischen Altertum, die die Unterlage für immer neue Libretti und Kompositionen bildeten – auch wenn sie trotz zwiespältiger Schicksalsarchaik auf die Götterwelt fixiert waren. Als Vorlage zur Mozart-Oper diente die schon 1712 von André Campra vertonte und in Paris gespielte Tragédie lyrique „Idoménée“ Antoine Danchets. Französische Forscher haben aber auch Anregungen durch die Schriftsteller Antoine-Marin Lemierre und Claude-Prosper Jolyot de Crébillon dokumentiert. Es ist das althergebrachte Thema des heimkehrenden Helden, der vor seinem Sieg das Gelübde ablegte, den ersten ihm zu Hause begegnenden Menschen Gott zu opfern. Fast dem gleichen Stoff hatte sich schon Georg Friedrich Händel bei der Geschichte vom biblischen Richter Jephta in seinem Oratorium zugewandt, nur dass hier nicht der Sohn, sondern die Tochter geopfert werden soll. In Campras bzw. Danchets „Idoménée“ versucht der König Idomeneus dem Menschenopfer durch Verzicht auf den Thron zu entrinnen. Aber Nemesis schlägt ihn mit Wahnsinn und er tötet Idamante mit dem Opferbeil. Ilia, die Geliebte des Idamantes, aber auch von dessen schuldlos schuldigem Vater geliebt, fällt durch eigene Hand. Obwohl Mozarts Opera seria keineswegs ein Beitrag zum Gluck’schen Musikdrama ist, greift er, genau wie Gluck bei „Alkestis“, zu einer glücklichen Lösung – auf dem Gebiet der Musik damit die Humanisierung des Mythos vollziehend. Idamante soll anstelle seines Vaters König werden, Ilia seine Gattin. In einem anderen Licht erscheint gleichfalls Idomeneos gefährliche Leidenschaft, die nun ins Väterliche abgewandelt ist; dafür wird neben Ilia die stolze Agamemnon-Tochter Elektra in den Vordergrund der Liebesintrige gerückt. Vier Menschen werden harten Prüfungen unterworfen: drei davon, nämlich Idomeneo, Ilia und Idamante, ringen sich zum Opfer durch und werden geläutert, während Elektra die Probe nicht besteht.

Dirigat und Orchester
Am Pult des Balthasar-Neumann-Ensembles steht in dieser konzertanten Aufführungsserie von Mozarts „Idomeneo“ der Gründer des Orchesters Thomas Hengelbrock. Er gilt als ausgewiesener Spezialist für das Mozart’sche Opern- und Konzertrepertoire und hegt darüber hinaus auch eine große Verehrung für die Alte Musik. Hengelbrock bringt mit seinem Klangkörper eine derart spannungsvolle und dynamisch überaus abwechslungsreiche Interpretation von „Idomeneo“ zu Gehör, wie sie schon lang nicht gehört war. Es gelingt Hengelbrock in Perfektion, dem antiken Stoff „Idomeneos“ eine musikalisch sagenhaft archaische Note zu verleihen, wodurch den Zuhörern eine qualitativ hochwertige und stimulierend-inspirierende Exegese präsentiert wird. Durch die zum Teil historischen Instrumente des Balthasar-Neumann-Ensembles imponiert ein gefälliger, wahrlich authentischer barocker Ton-Charakter, dessen Musikdramatik Raum zur geistigen Kontemplation schafft. Hengelbrocks Auslegung ist reich an orchestraler Wucht und Dramatik, begeistert aber auch an verhaltenen, eindringlichen und emotionalen Passagen. Darüber hinaus erweist sich Hengelbrock als Meister der orchestralen Untermalung, der mit sichtlicher und hörbarer Hingabe sich den Timbres und Volumina der Sänger*innen anzupassen wie hinzugeben im Stande ist. Geschmeidig, verspielt und orchestral ausdrucksstark offenbart sich der barocke Farbenreichtum des Klangkörpers und schafft eine einvernehmende und berührende Klangtransparenz. Bravo!

Besetzung

Idomeneo: Michael Spyres
Idamante: Rachel Frenkel
Ilia: Regula Mühlemann
Elettra: Nicole Chevalier
Arbace: Kresimir Spicer
Oberpriester des Nettuno: Mirko Ludwig
Stimme: Joachim Höchbauer
Zwei Kreter: Agnes Kovacs, Anne Bierwirth
Zwei Trojaner: Mirko Ludwig, Joachim Höchbauer
Soli: Katja Stuber, Jennie Lomm, Mirko Ludwig, Andrey Akhmetov

Besonders hervorzuheben sind:

Idomeneo: Michael Spyres
Ilia: Regula Mühlemann

Für die Titelpartie von Mozarts „Idomeneo“ konnte der amerikanische Tenor Michael Spyres verpflichtet werden, der derzeit als einer der führenden Vertreter des Belcanto-Fachs gehandelt wird. Vor allem mit ausgewählten Rollen aus den Opern Gioachino Rossinis sowie Gaetano Donizettis hat es Spyres in jüngster Vergangenheit zu großer Popularität gebracht, wobei besonders Pirro („Ermione“), Pollione („Norma“) und Arnold Melcthal („Guillaume Tell“) zu erwähnen sind. Spyres gibt in dieser Baden-Badener Aufführungsserie von „Idomeneo“ sein langerwartetes Rollendebüt und überzeugt mit einer höchst virtuosen und klangästhetischen Gesangsleistung, wobei vor allem seine breit angelegte Tessitura imponiert, die von den Höhen eines Baritons zum exquisiten tenoralen Falsett reicht. Das Timbre präsentiert sich als überaus lyrisch und hat eine weiche, mediterran angehauchte Färbung, die sich besonders für die anspruchsvollen lyrisch-dramatischen Opernrollen eignet. Spyres‘ Phrasierungen erklingen mühelos und auf tenoral höchstem Niveau, sodass auch das gefürchtete hohe Register mit vermeintlicher Mühelosigkeit ersungen wird. Besonders erwähnenswert erscheinen dabei auch die Übergänge von tiefer und kräftiger Bruststimme hin zu den klangschönen und reinen Spitzentönen seines belcantischen BariTenors. Die berühmte Arie Idomeneos „Fuor del mar“ im Zweiten Akt zählt zum absoluten Höhepunkt dieses konzertanten Abends. Mit welch grandioser gesanglicher Virtuosität sowie unendlich erscheinendem Atem es Spyres gelingt, die waghalsigen und gefürchteten Koloraturen dieser Arie zu Gehör zu bringen, zeugt von dessen Ausnahmetalent und vermag dem Zuhörenden höchsten Respekt abzuverlangen. Sein in diesem Falle dunkel-timbrierter Belcanto-Tenor, der im Übrigen zu enormen lyrischen Bögen und geschmeidigen Sprüngen fähig ist, geht bei dieser Arie mit dem barocken Klang-Charakter des Orchesters eine exzellente Symbiose ein. Bravo!

Für die anspruchsvolle Partie der Ilia konnte die Schweizer Sopranistin Regula Mühlemann engagiert werden, die schön häufiger bei den Baden-Badenern Festspielen zu Gast war, und als eine derzeit führenden Mozart-Interpretinnen gehandelt wird. Zu ihren Paraderollen zählen u.a. Susanna („Le nozze di Figaro“), Pamina („Die Zauberflöte“), Serpetta („La finta giardiniera“) und Servilia („La clemenza di Tito“). Mit Regula Mühlemann könnte die Rolle der Ilia nicht besser besetzt sein, da sie in sämtlichen drei Akten nicht nur vokal, sondern auch darstellerisch eine rollenimmanente Unschuld sowie Mädchenhaftigkeit verkörpert. Glasklar, glitzernd und elfenhaft breitet sich ihr lyrischer Hoher Sopran im Auditorium des Festspielhauses aus und schafft derart magische und berührende Momente, die das Publikum unweigerlich in Mühlemanns Bann ziehen. Ihre Phrasierungen und Koloraturen könnten an Exaktheit und Ästhetik nicht schöner sein. Besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle Mühlemann Darbietung der berühmt-berüchtigten Arie Ilias „Zeffiretti lusinghieri“, die an Strahlkraft und Kunstfertigkeit wahrlich zu begeistern vermag. Brava!

© Markus Guggenberger

Titelbild: http://www.festspielhaus.de – Pressemappe (Idomeneo-Ensemble) / Photo-©: Andrea Kremper – honorarfrei
Besetzungszettel liegt im Original vor.

Abb.1: http://www.festspielhaus.de – Pressemappe (Michael Spyres) / Photo-©: Andrea Kremper – honorarfrei
Abb.2: http://www.wikipedia.de (Wolfgang Amadeus Mozart – Gemälde von Johann Nepomuk della Croce 1781) / Photo-©: urheberrechtsfrei
Abb.3: http://www.festspielhaus.de – Pressemappe (Regula Mühlemann, Thomas Hengelbrock) / Photo-©: Andrea Kremper – honorarfrei
Abb.4: http://www.o-pr.net (Michael Spyres) / Photo-©: Marco Borrelli (Permission: Tim Weiler)
Abb.5: http://www.centrestagemanagement.com (Regula Mühlemann) / Photo-©: Guido Werner – honorarfrei (Permission: Alicia López Moreno)

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