Die Nase [Nos] – Bayerische Staatsoper München – 30.10.2021

Besprechung von Markus Guggenberger

Die Nase [Nos]

Oper in drei Akten und einem Epilog

Musik von Dmitri Schostakowitsch
Libretto von Dmitri Schostakowitsch, Jewgeni Iwanowitsch Samjatin und Aleksandr Preis nach der gleichnamigen Novelle von Nikolai Gogol

Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Inszenierung, Bühne, Kostüme: Kirill Serebrennikov
Co-Regie: Evgeny Kulagin
Mitarbeit Bühne: Olga Pavluk
Kostüme: Tatyana Dolmatovskaya
Masken: Shalva Nikvashvili
Video: Alexey Fokin, Alan Mandelshtam
Licht: Michael Bauer
Einstudierung des Chores: Stellario Fagone
Dramaturgie: Katja Leclerc
Dramaturgische Mitarbeit: Daniil Orlov

Am 30. Oktober 2021 bringt die Bayerische Staatsoper München mit der Neuinszenierung von Dmitri Schostakowitschs Oper „Die Nase“ [Nos] eines des sozialkritischsten sowie groteskesten Bühnenwerke der Musikgeschichte zur Aufführung. Die Inszenierung stammt von dem renommierten russischen Theater-, Film und Opernregisseur Kirill Serebrennikov, der in den letzten Jahren europaweit durch seine regierungskritischen Statements gegenüber der russischen Regierung große wie weitreichende Aufmerksamkeit erregt hat. In einem wahrlich dubiosen Schauprozess über angebliche Unterschlagungen an dem von ihm geleiteten „Gogol-Zentrum“ in Moskau wurde Serebrennikov zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Während seiner „Gefangenschaft“ sorgte Serebrennikov nicht nur in den Feuilletons, sondern auch auf den Titelseiten der Gazetten mit politisch-wirtschaftlichem Fokus für Furore, indem er aus seinem Hausarrest heraus die Verdi-Oper „Nabucco“ an der Hamburgischen Staatsoper inszenierte und diese trotz seiner physischen Abwesenheit durch seine Assistenten auf die Bühne brachte. Mit „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch gibt Kirill Serebrennikov nun sein langerwartetes Regie-Debüt an der Bayerischen Staatsoper. Auch für diese Produktion konnte Kirill Serebrennikov Russland nicht verlassen und inszeniert „Die Nase“ mithilfe seines Co-Regisseurs Evgeny Kulagin per Video-Call. Um den Inhalt, die Darstellung und vor allem die Personenregie der Inszenierung von Serebrennikovs „Die Nase“ besser nachvollziehen zu können, bedarf es einer genauen Kenntnis über die Entstehungszeit und Geschichte dieses Bühnenwerkes.

Im Gesamtschaffen Dmitri Schostakowitschs nehmen die monumentalen Symphonien den bedeutendsten Rang ein: Bereits als 19-Jähriger hatte er mit der Uraufführung seiner Examens-Komposition – der „Symphonie Nr. 1 f-Moll op. 10“ – einen ersten Achtungserfolg. Am Ende seines Lebens konnte Schostakowitsch die beachtliche Menge von insgesamt fünfzehn Symphonie vorweisen und ging als einer der größten und einflussreichsten Symphoniker in die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ein. Doch Schostakowitsch versuchte sich auch auf dem komplexen Gebiet der Opern- bzw. Ballett-Komposition, wobei sich aber leider nur wenige der insgesamt acht Bühnenwerke auf den Spielplänen der Theater halten konnten. Zu den bekanntesten zählen vor allem die beiden Opern „Der Spieler“ („Igroki“) und „Lady Macbeth von Mzensk“ („Ledi Makbet Mzenskowo ujesda“). Bei der „Nase“ [Nos] handelt es sich um einen Geniestreich des gerade 22-jährigen Dmitri Schostakowitsch nach der gleichnamigen Novelle von Nikolai Gogol. Während Gogols Novelle eine Satire auf die zaristischen Beamten ist, bringt die 1930 uraufgeführte Oper eine ganze Gesellschaft auf die Bühne, in der ein opportunistischer Beamter in die Fänge der Bürokratie gerät, eine Nase zur Mediensensation wird und die Polizei ihre Bürger radikal überwacht. Mit Tanzmusik, Balalaika-Klängen, russischer Kirchenmusik und dem ersten reinen Schlagzeugensemble der Musikgeschichte ist „Die Nase“ [Nos] nicht weniger grotesk als die merkwürdigen Begebenheiten, die sie erzählt. Was Schostakowitsch an der Erzählung so faszinierte, war, dass Gogols Kunstgriff darin bestand, die Vorgänge mit einer realistischen Nachdrücklichkeit zu erzählen, dabei jedoch gewisse Lücken in der Berichterstattung zu lassen, die das Doppelbödige der Handlung erst recht – man könnte sagen, wie unter einer Lupe – sichtbar und größer machen. Einzelne Banalitäten werden in überscharfer Optik betrachtet, so dass der ursprünglich nichtige Anlass sich zu einer existenziellen Fragestellung weitet. Bei der „Nase“ [Nos] handelt es sich um eine Satire bzw. Groteske auf das Obrigkeitsdenken, verknüpft mit der natürlichen, instinktiven Angst um einen Identitätsverlust. Gogol zeigt präzise, dass Komik sehr schnell in Schrecken mutieren kann. Es waren Gogols literarische Stilmittel, die den jungen Schostakowitsch dazu bewogen, aus diesem surrealen Sujet der „Nase“ [Nos] eine ganz neue Art von Bühnenwerk zu kreieren, in der wichtige Elemente der Filmtechnik, wie z.B. Überblendungen, eine zentrale Rolle spielen. Die Vieldeutigkeit des von Nikolai Gogol proklamierten Motivs der „Nase“ – diese kann ja auch als ein Symbol der Potenz oder für spezifische Charaktereigenschaften wie Hochmut oder Dummheit angesehen werden – wird in Schostakowitschs Bühnenwerk noch vielfach potenziert: Die wahrlich absurde Jagd nach der verlorenen Nase wird derart ins Groteske überdreht, sodass eine Psychose um die Nase um sich greift, obwohl die Nase längst wieder an Ort und Stelle angelangt ist.

Von Nikolai Gogols Erzählung ausgehend schufen die Librettisten Jewgeni Iwanowitsch Samjatin und Aleksandr Preis in Zusammenarbeit mit Dmitri Schostakowitsch selbst ein Textbuch, das einen zusammenfassenden Blick auf die literarische Welt Gogols wirft – angereichert wurde das Libretto mit eigenen Erfindungen und Fiktionen, um die in Gogols Erzählung dargestellten Vorgänge noch mehr zu verdeutlichen und zu aktualisieren. Die Partitur selbst schrieb Schostakowitsch innerhalb eines Jahres, in der Zeit von Sommer 1927 bis Sommer 1928. Noch vor der Uraufführung (18. Januar 1930) am Maly-Theater in Leningrad wurde die Neu-Konzeption der „Nase“ [Nos] mehrfach kritisch in Kompositionskreisen diskutiert. Dies hatte zur Folge, dass die szenische Premiere, ca. ein halbes Jahr nach der konzertanten Uraufführung, mit Spannung erwartet wurde. Trotz allen Erfolges verschwand die Oper „Die Nase“ [Nos] rasch vom Spielplan und endete vorerst in den Schreibtischschubladen von Schostakowitsch – abgetan wurde das Werk als „experimentelle Phase“ des Komponisten. Gedruckt wurde das Werk erst 1962 in Wien, nachdem es 1957 in Düsseldorf wieder „ausgegraben“ wurde.

Dirigat und Orchester
Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht in dieser Premierenstaffel von „Die Nase“ [Nos] der neu ins Amt berufene Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper Vladimir Jurowski. Er gilt nicht nur als Experte für das Fach der Deutschen Klassik und Romantik, sondern auch als ausgewiesener Spezialist für das russische Opern- und Konzertrepertoire. Eine große Verehrung hegt Jurowski für die Kompositionen von Dmitri Schostakowitsch, weshalb dessen Frühwerk „Die Nase“ [Nos] bei ihm in den besten Händen liegt. Vorbildlich erweist sich Jurowski an diesem Abend als höchst konzertiert und stets souverän agierender Kapellmeister, der den orchestralen Totentanz dieses monströsen Werkes in Perfektion darzubieten im Stande ist. So imponiert fortwährend ein im Klangkörper immanent tiefsinniger und bedrohlich wirkender harter Realismus, der auch deshalb so prominent in Erscheinung tritt, da Jurowski das von Schostakowitsch angewandte künstlerische Mittel der bewussten musikalischen Verfremdung omnipräsent werden lässt. Die Entlarvung des Spießbürgertums und die Darstellung des radikal agierenden Polizeistaats vermag Dmitri Jurowski musikalisch hervorragend zu allegorisieren, wobei die miteinander konkurrierenden Wechselstimmungen aus stilistisch gebrochener, schrill anmutender Avantgarde und grotesk-satirischer Tonalität orchestral auf höchstem Niveau gezeichnet werden. So forciert Jurowski nicht nur auffällige, dynamisch abgestufte Piani und Fortissimi, sondern auch eine interpretatorisch militaristische Radikalität. Der Klangcharakter des Staatsorchesters strotzt in seiner Gesamtheit geradezu vor aufgepeitschter Furiosität und modern interpretierter Dämonie. Bravo!

Besetzung

Platon Kusmič Kovaljov: Boris Pinkhasovich
Ivan Jakovlevič: Sergei Leiferkus
Praskovja Osipovna / Mutter: Laura Aikin
Reviervorsteher der Polizei: Andrey Popov
Ivan, Kovaljovs Lakai / 1. Sohn / Tenorsolo in der Kathedrale: Sergey Skorokhodov
Die Nase / Altes Männlein / 1. Neuankömmling / Verdienter Oberst / Pförtner des Polizeichefs: Anton Rositskiy
Lakai der Gräfin / Ivan Ivanovič / 8. Student: Sean Michael Plumb
Beamter der Annoncenredaktion / Vater / Arzt / 2. Neuankömmling: Gennady Bezzubenkov
2. Hausknecht / 3. Polizist / 2. Geck / Jemand / 3. Bekannter Kovaljovs: Piotr Micinski
1. Hausknecht / 10. Polizist / 4. Herr / 1. Bekannter Kovaljovs: Martin Snell
3. Hausknecht / 4. Polizist / Spekulant: Milan Siljanov
4. Hausknecht / 4. Student / Wächter / Heiduck / Droschkenkutscher / Kutscher: Bálint Szabó
5. Hausknecht: Andrew Hamilton
6. Hausknecht / 2. Sohn / 3. Student: Theodore Platt
7. Hausknecht / 6. Polizist / 6. Herr: Andrew Gilstrap
8. Hausknecht / 1. Polizist / 5. Herr: Roman Chabaranok
Jaryžkin / 2. Polizist / 1. Herr / 1. Student: Tansel Akzeybek
5. Polizist / 2. Herr / 1. Geck: Alexander Fedorov
7. Polizist / 6. Student: Armando Elizondo
8. Polizist / 3. Herr / 2. Student: Granit Musliu
9. Polizist / 7. Herr / 5. Student: Vasily Efimov
Pjotr Fjodorovič / 7. Student / 2. Bekannter Kovaljovs: Ulrich Reß
Alte ehrwürdige Dame: Doris Soffel
Händlerin: Eliza Boom
Pelageja Grigorjevna Podtočina: Alexandra Durseneva
Tochter von Pelageja Grigorjevna Podtočina / Sopransolo in der Kathedrale: Mirjam Mesak
Eunuchen: Meili Li, Matthias Dähling, Changhoun Eo, Brennan Hall, Kiuk Kim, Nina Laubenthal, Julie Marx, Agnes Preis, Susanne Thormann-Metzner, Aleksandar Timotic
Stimme aus der Dunkelheit (Chosrev-Mirsa): Vladimir Jurowski

Besonders hervorzuheben sind:

Die Nase / Altes Männlein / 1. Neuankömmling / Verdienter Oberst / Pförtner des Polizeichefs: Anton Rositskiy
Alte ehrwürdige Dame: Doris Soffel

Für die Partien „Die Nase / Altes Männlein / 1. Neuankömmling / Verdienter Oberst / Pförtner des Polizeichefs“ konnte der russische Tenor Anton Rositskiy verpflichtet werden, der sich in den letzten Jahren vor allem als Rossini-Interpret einen Namen gemacht hat. Zu seinen Paraderollen zählen u.a. Conte di Libenskof („Il viaggio a Reims“), Lindoro („L’Italiana in Algeri“) und Arnold Melcthal („Guillaume Tell“). Die verhältnismäßig kurze Partie der „Nase“, die auf Grund ihrer inhaltlichen Bedeutung aber durchaus als prägnante Hauptpartie angesehen werden kann, könnte mit dem klaren und schneidenden Tenor Anton Rositskiys nicht besser besetzt werden. Sein Timbre offenbart sich als stählern und metallisch timbriert, sodass der satirische und überaus zynische Charakter der Nase mustergültig getroffen wird. Rosititkys Tenor präsentiert sich für das russische Repertoire ungewöhnlich voluminös und lautstark sowie auch nahezu charakterhaft, wodurch die groteske Komponente von Schostakowitschs „Nase“ wahrlich profitiert. Auch in allen weiteren Rollen imponiert Rositskiy mit vokalen Akzenten und sticht durch seinen tenoralen Wiedererkennungswert aus dem kollektiven Sänger*innensensemble heraus. Besonders erwähnt sei an dieser Stelle Rositskiys Interpretation der Nasen-Szene „Što vam ugodna? – Was wollen Sie?“ im Vierten Bild, in der er in der Konfrontation mit Platon Kusmič Kovaljov die hämische und überheblich-abgehobene Persönlichkeit der Nase beispielhaft portraitiert.  

Für die kurze, aber prägnante Partie der Alten ehrwürdigen Dame konnte mit Doris Soffel eine der herausragendsten Mezzosopranistinnen bzw. Altistinnen ihrer Generation gewonnen werden. Soffel, die in der Opernwelt ja bereits einen legendenhaften Status erreicht hat, widmet sich nach vielen erfolgreichen Jahrzehnten als Kundry („Parsifal“), Judith („Herzog Blaubarts Burg) und Amme („Die Frau ohne Schatten“) seit geraumer Zeit den ausgewählten Partien des mezzosopranistischen Charakter-Fachs, wie z.B. Klytämnestra („Elektra“), Madame de Croissy („Dialogues des Carmélites“) und Adelaide („Arabella“). Als Alte ehrwürdige Dame begeistert Doris Soffel nicht nur mit gesanglicher, vor allem aber mit darstellerischer Intensität, die mit enormer schauspielerischer Detailverliebtheit gepaart ist. Besonders in ihrer Auftritts-Szene „Ja chaču vam raskazat‘ adno asob’ennaje praisšestvije. – Ich will euch von einem besonderen Ereignis erzählen.“ beeindruckt Soffel mit ihrer Bühnenpräsenz und ihrem kräftigen sowie immer noch recht voluminösen Mezzosopran, der über einen sagenhaften Wiedererkennungswert verfügt. Selbstverständlich sind im Laufe der letzten Jahre einige Verschleißerscheinung in puncto vokaler Brüchigkeit erkenn- und hörbar, aber diese machen die leicht eilte, selbstdarstellerische und todessehnsüchtig-skurrile Rolle der Alten Dame besonders reizvoll. Besonders hervorgehoben sei auch Soffels nicht zu verachtender Alt, der über eine orgelnde und sonore Tiefe verfügt und damit die groteske Komponente dieser Partie komplettiert.

© Markus Guggenberger

Titelbild: http://www.staatsoper.de – Pressemappe (Ensemble „Die Nase“) / Photo-©: Wilfried Hösl – honorarfrei (Permission: Sophia Lechner)
Besetzungszettel liegt im Original vor.

Abb.1: http://www.staatsoper.de – Pressemappe (Boris Pinkhasovich) / Photo-©: Wilfried Hösl – honorarfrei (Permission: Sophia Lechner)
Abb.2: http://www.staatsoper.de – Pressemappe (Ensemble, Doris Soffel) / Photo-©: Wilfried Hösl – honorarfrei (Permission: Sophia Lechner)
Abb.3: http://www.staatsoper.de – Pressemappe (N.N., Laura Aikin, Gennady Bezzubenkov) / Photo-©: Wilfried Hösl – honorarfrei (Permission: Sophia Lechner)
Abb.4: http://www.rsb-online.de – Pressemappe (Vladimir Jurowski) / Photo-©: Simon Pauly – honorarfrei (Permission: Anne Ströhler)
Abb.5: http://www.tact4art.com (Anton Rositskiy) / Photo-©: Daniil Rabovsky (Permission: Anna Fauth)
Abb.6: http://www.amo-massis.eu (Doris Soffel) / Photo-©: Boris Streubel (Permission: Louis Chanson)

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