Agrippina – Staatsoper Hamburg – 6.6.2021

Besprechung von Markus Guggenberger

Agrippina

Dramma per musica in drei Akten

Musik von Georg Friedrich Händel
Libretto von Vincenzo Grimani

Musikalische Leitung: Riccardo Minasi
Orchester: Ensemble Resonanz
Inszenierung: Barrie Kosky
Mitarbeit Regie: Johannes Stepanek
Bühnenbild: Rebecca Ringst
Kostüme: Klaus Bruns
Licht: Joachim Klein
Umsetzung Licht: Benedikt Zehm
Dramaturgie: Nikolaus Stenitzer
Spielleitung: Sascha-Alexander Todtner

Nachdem seit Anfang November 2020 sämtliche Opernhäuser und Theater ihren Spielbetrieb auf Grund der Covid-19-Pandemie zum zweiten Male komplett einstellen mussten, bekam die Staatsoper Hamburg Anfang Juni 2021 als eine der ersten kulturellen Institutionen die Möglichkeit ihre Pforten für ein Live-Publikum zu öffnen, um die bedauernswert kurze Spielzeit 2020/21 mit zwei fulminanten Opernproduktionen beenden zu können. Dabei ist es selbstverständlich, dass im Rahmen dieser „Wiedereröffnung“ strikt an den bewährten Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen festgehalten wird, wodurch die Zahl der Besucher*innen logischerweise radikal reduziert ist. Am 6. Juni 2021 bringt die Staatoper Hamburg mit „Agrippina“ ein höchst selten gespieltes und inszeniertes Bühnenwerke von Georg Friedrich Händel zur Aufführung.
Mit der Neu-Inszenierung dieses tragikomödiantischen Bühnenwerks Händels wurde der renommierte, deutsch-australische Theater- und Opernregisseur Barrie Kosky betraut. Als ehemaliger künstlerischer Leiter der Gilgul Theatre Company und als derzeitiger Intendant der Komischen Oper Berlin verfügt Kosky über ein derart breites Opern bzw. Schauspielrepertoire-Repertoire, das sich im musikalischen Bereich von den Werken Richard Wagners bis hin zu jenen Paul Abrahams erstreckt. Seine besondere Liebe gilt allerdings der Alten Musik, wobei vor allem die szenischen Umsetzungen der Opern Christoph Willibald Glucks, Claudio Monteverdis und Antonio Vivaldis zum großen und internationalen Erfolg Koskys beigetragen haben.
Um den Inhalt, die Darstellung und auch die Personenregie der Inszenierung von Barrie Koskys „Agrippina“ besser nachvollziehen zu können, bedarf es einer genauen Kenntnis über die Entstehungszeit und Geschichte dieses Bühnenwerkes.

Der weltoffene Sinn des musikalisch reich und hoch begabten Georg Friedrich Händel strebte schon früh über die Grenzen seiner Geburtsstadt Halle hinaus – zunächst nach Hamburg, doch weitere Wanderjahre führten ihn vor allem nach Italien, in das Land des unvergleichlichen Opernglanzes, dessen Stil, besonders den dramatisierten, er als seinen eigenen in sich aufnahm. Doch in weiterer Folge wurde schließlich England, das zu jener Zeit vielleicht fortschrittlichste Land der Welt, seine Wahlheimat. Der damals 25-jährige lenkte sofort die Aufmerksamkeit mit seiner Oper „Rinaldo“ auf sich. Drei Etappen sind bei Händels sich nahezu über ein halbes Jahrhundert erstreckendem Aufenthalt in England zu unterscheiden: Die erste Etappe zeigt den jungen Händel noch in engem Kontakt zu den Gönnern des Adels und der Großbourgeoisie, für die er vorrangig seine Opern schrieb. Die zweite Phase machte ihn zum Initiator und Unternehmer der „Londoner Oper“, bis eine Siegeskette seiner Werke zum endgültigen Bankrott der von ihm begründeten Royal Academy of Music führte. Die dritte Periode wurde zum Höhepunkt seines Schaffens, nämlich zur Glanzzeit des Oratoriums. Bevor Händels mächtiges Lebenswerk ins Volksoratorium einmündete, schrieb er insgesamt 46 Opern. Obwohl es sich bei Händel um den bedeutendsten Komponisten der „Opera seria“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts handelte, galt er später allein als Verfasser von Oratorien. Lange hielt sich die Meinung, dass Händels Opern zu zeitgebunden seien, um noch wirkungsvoll aufgeführt zu werden. Damit waren vor allem die Kastratenrollen, aber auch das gesamte szenischen Spektakel der Barockoper gemeint. Händels Opern erschöpfen sich jedoch nicht in der Ausstattung, sie enthalten ein immer wieder aufs Neue zu erprobendes Potenzial an differenzierter Personencharakterisierung jenseits von allem Schematismus der Opera seria und dazu eine Fülle von musikalischen und dramaturgischen Entdeckungen, die weit über das normative Regelwerk der Opera seria hinausgehen.


Seine italienische Studienzeit verbrachte Georg Friedrich Händel größtenteils ins Rom, wo er in den Kardinalen Benedetto Panfili und Pietro Ottoboni sowie in dem Fürsten Bartolomeo Ruspoli großzügige Mäzene und Förderer gefunden hatte. Man sollte sich im Übrigen nicht darüber wundern, dass Händel während seiner vier Jahre, die er in Italien, dem Geburtsland der Oper, verbrachte, lediglich zwei Bühnenwerke schrieb, nämlich „Rodrigo“ und „Agrippina“ – die Theater und Opern waren auf päpstliche Anordnung hin geschlossen worden. Die Opera seria, die vom Vatikan als zu weltlich eingestuft worden war, stand im Schatten der Kantanten und Oratorien – diese wurden aufgeführt, weil die vermögenden Musikliebhaber nicht auf die dramatische Vokalkunst verzichten wollten. So sind zwei Oratorien und über hundert Kantanten aus Händels italienischer Kompositionsphase als Vorbote auf seine glänzende Opernkompositionskarriere anzusehen.

Die Oper „Agrippina“ überzeugt sowohl durch die musikalische Charakterisierung der Figuren wie auch durch die dramaturgisch hervorragend ausgearbeitete Gesamtkonzeption. Als literarischer Glücksfall erwies sich das formidable Libretto, das Kardinal Vincenzo Grimani speziell für Georg Friedrich Händel verfasst hatte. Das ist insofern von großer Bedeutung, da dies in einer Zeit der Fall war, in der auf Originalität eines Textbuches kaum großen Wert gelegt wurde. Der überaus gebildete Diplomat Grimani ließ sich von den durch Sueton und Tacitus überlieferten historischen Ereignissen um die machthungrige Agrippina zu einer Art Satire im tragikomödiantischen Stile inspirieren. Musikalisch ist zu erwähnen, dass Händel für seine Oper „Agrippina“ lediglich fünf Arien neu komponiert hat. Man kann sagen, dass er ca. vier Fünftel der Komposition übernommen hat – selbstverständlich in unterschiedlich stark abgewandelte Überarbeitung. Das meiste stammt aus seinen römischen Kantaten, seinem kurz zuvor entstandenen Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ und aus einigen Kompositionen seines Hamburger Lehrers Johann Mattheson. Die Uraufführung von „Agrippina“ fand Ende Dezember des Jahres 1709 im venezianischen Teatro San Giovanni Grisostomo statt, das im Übrigen der Familie des Librettisten Grimani gehörte.

Dirigat und Orchester
Am Pult des Kammerorchesters Ensemble Resonanz steht in dieser Neuproduktion von Händels „Agrippina“ der italienische Dirigent und Violinist Riccardo Minasi. Er gilt als einer der begabtesten Dirigenten seiner Generation und hat sich im Laufe seiner Karriere besonders als Spezialist des Alten Fachs etabliert, wobei vor allem Komponisten wie Christoph Willibald Gluck, Antonio Vivaldi und Pietro Metastasio im Mittelpunkt seines Repertoires stehen. Eine besondere Verehrung hegt Minasi darüber hinaus für das umfangreiche Opus Georg Friedrich Händels. Er zeigt eine spannungsreiche, geradezu akribisch detailgetreue Interpretation dieser tragikomödiantischen Oper, die aber trotz des musikalisch überwiegenden Lamentos besonders bei furiosen Passagen mit packender, orgiastischer Feurigkeit sowie aufpeitschender Exaltiertheit begeistert. Bewundernswert ist zudem der umfangreiche, barocke Farbenreichtum der Klänge, die Minasi dem Kammerorchester zu entlocken im Stande ist. Der Klang-Charakter ist in seiner Gänze als warm, transparent und einvernehmend zu bezeichnen. Besondere Bewunderung muss man Riccardo Minasi auch insofern zugestehen, da er das Orchester von Beginn der Oper an auf höchstem Niveau mit seiner Violine am Pult tatkräftig unterstützt und zeitgleich das Dirigat fortsetzt. Selten vernimmt man derart plastisch und gründlich die für Händel so typische Struktur der Da-Capo-Arien – somit kommen die psychologischen Zwiespältigkeiten, die diversen Unberechenbarkeiten oder auch die simplen Zweifel der handelnden Figuren ideal zum Vorschein. Mit durchwegs flüssigem Tempo, geschmeidiger und hingebungsvoller Lyrik sowie pointiert dramatischen Ausbrüchen präsentiert Minasi eine berührende und zugleich fesselnde Aufführung, die musikalisch wohl kaum besser dargeboten werden könnten. Bravo!

Besetzung

Agrippina: Anna Bonitatibus
Claudio: Luca Tittoto
Poppea: Julia Lezhneva
Ottone: Christophe Dumaux
Nerone: Franco Fagioli
Pallante: Renato Dolcini
Narciso: Vasily Khoroshev
Lesbo: Chao Deng

Besonders hervorzuheben sind:

Agrippina: Anna Bonitatibus
Poppea: Julia Lezhneva
Nerone: Franco Fagioli

Für die Titelpartie von „Agrippina“ konnte die italienische Mezzosopranistin Anna Bonitatibus verpflichtet werden, die vor allem durch ihre Interpretationen von Hosenrollen in Opern von Wolfgang Amadeus Mozart, Georg Friedrich Händel oder Gioachino Rossini große Berühmtheit erlangte. Zu ihren Paradepartien zählen u.a. Cherubino („Le nozze di Figaro“), Sesto („La clemenza di Tito“), Sesto Pompeo („Giulio Cesare in Egitto“) und „Tancredi“. Als einstmalige Interpretin des Nerone widmet sich Anna Bonitatibus nun der herrschsüchtigen und intriganten Agrippina, die vor allem im barocken dramatischen Stimmfach anzusiedeln ist. Mit ihrem lehrbuchhaft geführten sowie dunkel-timbrierten Mezzosopran meistert sie die enormen und eigenwilligen Koloraturen in Perfektion. Trotz ihrer lang andauernden Karriere brilliert Anna Bonitatibus mit glänzenden Legati und einfühlsamen Piani – etwaige Abnutzungserscheinungen ihrer Stimme sind nicht zu vernehmen. Nicht nur vokal, sondern auch darstellerisch trifft sie das Rollenportrait bzw. die Charakterisierung Agrippinas auf den Punkt. Bonitatibus‘ scheinheilige Freundschaftsbekundung „Non ho cor“ für Poppea strotzt geradezu vor höfischer Künstlichkeit und provokant aufgesetzter Falschheit. Der farbenreiche und gesottene Mezzosopran verleiht Agrippina nicht nur die essenzielle Bosheit, sondern zeigt auch die wahnhaften Gedanken und Ängste dieser im Prinzip getriebenen Persönlichkeit auf – in Perfektion nachvollziehbar ist dies in den beiden Arien „Pensieri, voi mi tormentate“ und „Ogni vento ch’al porto lo spinga“.

Als jugendlich-liebreizende Poppea konnte mit der Russin Julia Lezhneva ein wahres Juwel der barocken Gesangskunst engagiert werden. Lezhneva gilt als eine der begehrtesten Fachvertreterinnen ihrer Generation und agiert im Hohen-Sopran-Fach im Prinzip konkurrenzlos. Zu ihren favorisierten, maßstabsetzenden Partien zählen vor allem Galatea („Polifemo“), Morgana („Alcina“), Laodice („Siroé“) und Asteria („Tamerlano“). Als Poppea brilliert Julia Lezhneva ob ihrer vokalen Kultiviertheit und ob ihrer virtuos gestalteten Barock-Koloraturen. Ihre nicht nur darstellerisch, sondern auch gesanglich hinreißende Mädchenhaftigkeit trifft den von Händel vorgegebenen Rollentypus ideal. Glasklar, glitzernd und engelsgleich breitet sich ihr lyrischer Hoher Sopran im Auditorium der Staatsoper aus und schafft derart magische und berührende Momente, die das Publikum unweigerlich in Lezhnevas Bann ziehen. Ihre Triller und Ornament-Verzierungen könnten an Exaktheit und Ästhetik nicht schöner sein. Besonders hervorgehoben sei Lezhnevas Darbietung der berühmt-berüchtigten Arie Poppeas „Vaghe perle, eletti fiori, adornatemi la fronte!“, die an Strahlkraft und Kunstfertigkeit wohl kaum besser zu erleben sein dürfte. Die verführerischen und betörenden Komponenten ihrer gesanglichen Fertigkeiten sind atemberaubend, wobei die Arie „Se giunge un dispetto“ nur einen der vielen, meisterhaft ersungenen Höhepunkte Lezhnevas darstellt. Brava!

Mit dem Argentinier Franco Fagioli konnte einer der derzeit weltbesten Countertenöre für die überaus anspruchsvolle Rolle des Nerone gewonnen werden. Fagiolis Liebe gilt vor allem Kastratenrollen und er schätzt die Kompositionen von Barock-Komponisten wie Nicola Porpora, Johann Adolph Hasse und Giovanni Battista Pergolesi. Zu seinen Paraderollen zählen vor allem Arbace („Artaserse“), Cesare („Catone in Utica“) und Adalgiso („Carlo il Calvo“). Mit seinem unverkennbaren, überaus exzentrisch timbrierten sowie weiblich-androgyn klingenden Countertenor präsentiert Franco Fagioli ein sowohl gesanglich als auch darstellerisch grandioses Rollenportrait des pubertär-tyrannischen, ödipal charakterisierten Nerone. Die von Fagioli dargestellten Stereotypien verdeutlichen die neurotischen und egozentrischen Eigenschaften dieses vom Wahn getriebenen, designierten Kaisers. Fagiolis perfekt ausgearbeitetes Rollenportrait zeigt sich sowohl im engagierten Schauspiel, als auch in den virtuos gestalteten Counter-Koloraturen, die nicht nur ob ihres faszinierenden Legatos, sondern auch ob der perfekt ersungenen Barock-Staccatierungen beeindrucken. Faszinierend ist, wie es Fagioli gelingt, sich in die für einen Countertenor stratosphärischen Höhen zu schwingen, ohne dabei auch nur im Ansatz zu forcieren. Dass Fagioli in der Lage ist, countertenorale Spitzentöne sekundenlang halten zu können, zeugt von seinem Ausnahmetalent. Besondere Erwähnung finden müssen die Arien „Con saggio tuo consiglio“ und „Sotto il lauro“, die die Bravourleistung Fagiolis attestieren.

© Markus Guggenberger

Titelbild: http://www.staatsoper-hamburg.de – Pressemappe (Anna Bonitatibus) / Photo-©: Hans Jörg Michel – honorarfrei
Besetzungszettel liegt im Original vor.

Abb.1: http://www.staatsoper-hamburg.de – Pressemappe (Franco Fagioli) / Photo-©: Hans Jörg Michel – honorarfrei
Abb.2: http://www.staatsoper-hamburg.de – Pressemappe (Anna Bonitatibus, Franco Fagioli) / Photo-©: Hans Jörg Michel – honorarfrei
Abb.3: http://www.staatsoper-hamburg.de – Pressemappe (Julia Lezhneva) / Photo-©: Hans Jörg Michel – honorarfrei
Abb.4: http://www.harrisonparrott.com (Riccardo Minasi) / Photo-©: Drew Gardner (Permission: Marie Strube)
Abb.5: http://www.orlob.net (Anna Bonitatibus) / Photo-©: Frank Bonitatibus (Permission: Boris Orlob)
Abb.6: http://www.askonasholt.com (Franco Fagioli) / Photo-©: Julian Leidig (Permission: Isabella Pitman)

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